Wie dieTage zuvor wurde ich auch heute abermals vor dem Handywecker wach. Meine innere Uhr holte mich mittlerweile gegen halb sechs aus dem Schlaf. Kurios. Bis zum Klingeln des Weckers blieb ich dennoch liegen und Döste vor mich hin. Gerade jetzt wo die Tage wieder kürzer werden und es draußen kalt und ungemütlich wird, genieße ich die Zeit im kuschelig und warmen Bett umso mehr. Als der Wecker dann los trällerte, schaute ich kurz nach, was es in der Welt Neues gab und machte mich langsam fertig fürs Frühstück. Ich war die einzige Pilgerin in der Herberge. Schon irgendwie sonderbar. ?
Als ich im Frühstückssaal ankam war schon alles für mich vorbereitet. Ohh freute ich mich auf was leckeres zu essen. Es gab wieder nur das olle Weißbrotbaguette, aber davon diesmal reichlich, inklusive leckerer selbstgemachter Konfitüre in vier verschiedenen Variationen, und Butter dazu. Ein herzhaftes Frühstück gibt es hier im Käseland einfach nicht ? Als mich meine Herbergsmutter gestern fragte, was ich morgens gerne trinken möchte antworte ich natürlich “Kaffee”. Aber wo war die Tasse? Hier stand nur eine Schüssel und ein Glas für den Orangensaft. Als das Kännchen mit dem Kaffee kam, klärte mich meine Herbergsmutter auf. Der Kaffee wird morgens in Frankreich aus der Schale und ab mittags aus Tassen getrunken. Morgens kommt der Kaffee in die Schale, sodass das Baguette darin getunkt werden kann. Ich probierte es aus, und tunkte das Baguette in den Kaffee. Ihhh, wer kommt denn auf so eine blöde Idee ? Das war überhaupt nicht mein Fall. Ich bevorzugte mein Baguette dann doch lieber mit Marmelade und Butter.
Laut Wetterbericht sollte es heute morgen, bis ca. 12 Uhr sonnig und trocken bleiben. Danach war dann nur noch Regen angesagt. Grund genug um heute früh los zulaufen, sodass ich noch vor dem Regen in der Auberge (Herberge) ankomme. Daher plante ich so gegen Ein Uhr dort zu sein. Doch wenn es so weitergehen sollte wie die ersten Kilometer, konnte ich das knicken. Der Morgen war so wunderschön, dass ich einfach jede fünf Minuten stehen bleiben und ein Foto schießen musste. Die Sonne schien geradewegs durch die Berge und hüllte die Landschaft in ein einzigartiges Licht. Ich konnte es kaum fassen, sodass immer wieder “Einfach unglaublich. Geil, geil, geil. Das gibt es nicht” in Dauerschleife aus mir heraussprudelte, während ich die Bilder schoss. Wow, so wunderschön. ? Die fabelhaft puristische Landschaft durchzog sich durch den gesamten Tag.
Nachdem ich das letzte kleine Dorf passiert hatte, ging es durch den Wald. Rote Warnschilder machten mich darauf aufmerksam, dass der Waldweg nicht verlassen werden darf, da hier ein Jagdgebiet sei. Anneliese hatte mich bereits darauf hingewiesen, dass hier in Frankreich viel gejagt wird. In der Regel sind an den Wegen Infotafeln angebracht, auf denen dienJagtzeiten angeschlagen sind. Laut Infotafel war heute ein Jagttag. Ohje. Als ich aus der Ferne einen Jäger an seiner orangefarbenen Weste erkannte, wurde es mir etwas mulmig im Magen. Anneliese gab mir mit auf den Weg, dass ich besonders gut aufpassen sollte, wenn ich zur Jagtzeit durch den Wald gehe. Als ich dann an dem Jäger vorbei ging und das riesige Gewähr sah, verstärkte sich das mulmige Gefühl noch mehr. Entsprechende Signalfarben hatte ich nicht unbedingt an, sondern war eher dezent gekleidet. Ich hoffte nur, dass die Jäger mich nicht mit einem Reh oder Ähnliches verwechselten. Ein bisschen Muffensauen hatte ich ja ehrlich gesagt schon. Doch glücklicherweise um sonst. Als ich den Wald passiert hatte konnte ich wieder aufatmen und lief entspannt weiter.
Auf einem kleinen Damm ging der Weg dann weiter. Wieder mal spitze Steine, die den Spaziergang sehr ungemütlich gestalteten. Herr Gott, was denken die Franzosen sich bei solchen Wegen? Also eine Fußmassage ist das nicht gerade. Doch der Weg hielt mich nicht davon ab, wieder in meine Gedankenblase zu versinken. Diesmal drehten sich meine Gedanken rund um meine verstorbenen Großeltern. Ich dachte an die schönen und gemeinsame Momente zurück und ließ meinen Gefühlen freien Lauf.
Erst seit einiger Zeit kam es häufiger vor, dass ich nun in diese Gedankenblasen versank und über irgendwas nachdachte. Viele sagen, dass einen der Weg nur verändert, wenn man ihn für eine lange Zeit geht. Zuerst hatte ich nicht daran geglaubt, doch nun merkte ich es. Vielleicht war wirklich etwas daran. Die Euphorie und das Neuartige, was ich die ersten Wochen erlebt hatte waren nun allmählich vorbei. Nun began die intensive Phase.
Als ich am heutigen Etappenziel ankam, ging es abermals fünf Kilometer weiter bis zur Herberge. Es fing an zu Regnen. Hätte der Regen nicht noch die eine Stunde abwarten können? Ich warf meinen Regenponscho über mich und meinen riesigen Sack und sah aus wie ein kleines grünes Gespenst. Der Weg führte mich auf eine Landstraße ohne Fußgängerweg, direkt am Fluss vorbei. Als ich auf den Fluss blickte, bekam ich ein Deja Vu. Der Fluss war so blau wie der Brienzersee. Ein Stück weiter fand ich auch wieder eine Liane, mit der man sich in den Fluss schwingen konnte. Ich war ja schon geneigt, mal kurz in den Fluss zu springen. Ich war ja eh schon halb nass. Die Vernunft siegte allerdings am Ende. Bei den niedrigen Temperaturen würde ich mir nur unnötig einen Schnupfen oder eine Grippe einfangen und das konnte ich mir nicht erlauben. So ging es weiter und plötzlich blieb ich vor lauter Schreck stehen. Vor mir lag eine riesige tote Schlange, die wohl von einen Auto überfahren wurde. Mir tat die Schlange leid, dass sie einen solchen Tot finden musste. Doch zugleich war ich auch überrascht, dass es hier solche Exemplare gibt. Später klärte mich mein Vater auf, dass es noch viel mehr Schlangenarten in Frankreich gibt, wobei wohl auch zwei davon giftig sind. Na danke für die Info ? Campen war dann nun doch erst mal für mich gestorben. Solche Schmusetiere musste ich nicht in meinem Zelt haben.
Endlich in der Herberge angekommen, konnte ich es kaum fassen, als ich mein Zimmer gezeigt bekam. War das schööön ? Richtig gemütlich und stilvoll eingerichtet. Genau passend für einen verregneten Tag. Glück muss man haben. ?
Sogar Kaffe gab es, so viel wie man wollte. Dass ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich bediente mich und verbrachte den Nachmittag mit Gemeinschaftsraum. Ich machte mir was kleines zu essen, begab mich wieder auf die Suche nach Unterkünften, versuchte etwas französisch zu lernen und blickte eine Weile auf die verschneiten Berge, die nicht von meinem Platz aus hervorragend sehen konnte. Dabei begleitete mich ein Lied “Caribou – In can’t do without you”, welches ich von einem Radiosender aufgeschnappt hatte. Das Lied, der Dauerregen und die kalte Temperatur führten dazu, dass ich in eine Art Winterblues verfiel, aber nicht im negativen Sinne. Es war ein melankolisches aber dennoch schönes Gefühl, abgestimmt auf die Jahreszeit. Ich war nicht traurig oder so, ganz im Gegenteil. Ich merkte nur das der Sommer nun vorbei war und stellte mich somit auf den Winter ein.
Später am Abend, bevor es richtig dunkel wurde, hörte der Regen auf und irgendwie hatte ich spontan das verlangen zum See zu gehen, der direkt vor der Herberge lag, um mir die Berge von dort aus anzusehen. Ich lief in meinen Badeschlappen und mit der Musik im Ohr nach draußen. Ich lief auf die riesige Wiese, hin zum Ufer. Das ganze Schilf verdeckte jedoch den See und die Sicht. Daher lief ich wieder zurück und suchte einen anderen Weg zum See. Doch ich fand keinen. Auf halben Weg erblickte ich dann einen kleinen Steg zum türkisfarbenen Fluss hin. Der war wie für mich gemacht. Dort setzte ich mich hin und schaute in Richtung Sonnenuntergang. Ein Moment, den man mit Worten nicht beschreiben kann ?. Zurück ging es dann Barfuß. Ich wollten das Gras und auch den Matsch unter meinen Füßen spüren. Verrückt, aber es machte unheimlich viel Spaß. Nach dem Abenteuer hüpfte ich ein zweites Mal kurz unter die Dusche, um mich sauber zu machen und verschwand danach direkt ins Bett. ?
So ganz allmählich erscheint es mir, wird ” der Abstand zum alltäglichen Leben” in Deinen Pilgerberichten immer deutlicher zu spüren.
Vielleicht ist diese veränderte Sicht auf viele Dinge eine wesentliche Erfahrung des Jakobsweges.
Viele bereichernde Erkenntnisse.